Dr. Christian Ehler: „Europa ist in einer schweren Krise“

W+M sprach mit dem Mitglied des Europäischen Parlaments Dr. Christian Ehler über die Lage in Europa, die Krisen und die Chancen für eine erfolgreiche EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands.

W+M: Wie steht es um die Europäische Union?

Dr. Ehler: Die Frage, ob und wann wir wieder Wachstum in Europa haben und damit die Bedeutung des Erfolgsmodels „Europäischer Binnenmarkt“ war für die europäische Wirtschaft noch nie so entscheidend wie jetzt. Auf der anderen Seite befinden wir uns in einer tiefen politischen Krise der Europäischen Union, die nicht zuletzt daher rührt, dass erstmals ein so großes Land wie Großbritannien aus der EU austritt. Diese merkwürdige Dialektik prägt gegenwärtig die europäische Politik.

W+M: Wie schlecht steht es denn wirklich um Europa?

Dr. Ehler: Mit dem Ausbruch der Corona-Krise haben wir die nationalen Grenzen geschlossen und hatten auch das Gefühl, dass nun die Zeit des Nationalstaates gekommen sei.  Es gab keine einheitliche Strategie zur Pandemiebekämpfung, die Grenzschließungen wurden nicht abgestimmt. Im Rat gab es dramatische Szenen und gegenseitige Vorwürfe. Man hatte elementarste Grundsätze der Europäischen Union, wie die Freizügigkeit oder den Schengenraum, bei erster Gelegenheit über Bord geworfen – was ja durchaus die Bruchstellen Europas zeigt. Es galt zunächst: In dieser Krise regiert das nationale Interesse allein. Wenn es ernst würde, schien Europa keinen Beitrag leisten zu können.

Auf der anderen Seite war es der funktionierende europäische Binnenmarkt, der uns vor den schlimmsten Folgen eines absoluten Lockdown gerettet hat. Wenn man in den Supermarkt ging, war die gesamte Produktpalette aus Europa vorhanden. Die Nahrungsmittelversorgung war nicht durch Europa in allen Ländern gesichert – sieht man von der kurzzeitigen Klopapierhysterie ab. Sonst hätten die Deutschen auch nicht innerhalb eines Monats fast so viel italienische Spagetti aufkaufen können, wie sie es sonst in einem Jahr tun. Wir hatten subjektiv das Gefühl, der Nationalstaat hat alles übernommen, aber das öffentliche Leben, unser Konsum, die Zulieferungen in der Wirtschaft, die Logistik und alles, was den gemeinsamen Binnenmarkt ausmacht, das hat weiter funktioniert. Es hat niemand den Binnenmarkt geschlossen, die Lager wurden weiter gefüllt.

Die raschen Erkenntnisse aus der Forschung, den Austausch von Daten, die Erkenntnisse für die Behandlungserfolge in den Krankenhäusern verdanken wir den Forschungs- und Gesundheitsnetzwerken, die wir im Rahmen der Europäischen Union aufgebaut haben. Gemeinsam sind wir weltweit an der Spitze der Corona-Forschung und wir werden spätestens nächstes Jahr allen Europäern einen Impfstoff zu Verfügung stellen können.

Das zeigt aber eben auch das Substanzielle der Krise, wenn angesichts einer solchen Krise jedes Land die Probleme zuhause klären will und das mit unterschiedlichsten Strategien. Wenn man nur an Schweden oder Großbritannien denkt, die anfänglich sehr großzügig mit der Pandemie umgingen oder aber an Spanien, wo es Einschränkungen gab, die wir uns gar nicht vorstellen konnten. Da gab es keinen gemeinsamen Ansatz in Europa. Das alles zeigt die Krise Europas

W+M: Was hat Europa aus dieser Krise bereits gelernt bzw. wo liegen die Chancen?

Dr. Ehler: Wir haben gelernt, dass wir Grenzen sehr schnell schließen können, und das auch jeder für sich, aber öffnen können wir sie nicht einseitig, sondern nur gemeinsam und einvernehmlich im Interesse der Wirtschaft und der Bürger. Diese Erkenntnis und die absehbare wirtschaftliche Krisensituation führen nun erstmals und vorsichtig dazu, über eine Harmonisierung der europäischen Wirtschaftspolitik nachzudenken. Das haben wir in den vergangenen 25 Jahren – auch angesichts des gemeinsamen Euros – bisher nicht geschafft. Allerdings wird das Thema mehr unter dem Gesichtspunkt der Verschuldung und Sinnhaftigkeit von finanzieller Solidarität gesehen. Aber dennoch sitzen jetzt die Regierungschefs an einem Tisch und sprechen über Hilfen in Höhe von 750 Milliarden Euro. Was ja nichts anderes ist, als eines der größten Konjunkturpakete nach dem 2. Weltkrieg. Die Krise zeigt sich aber darin, dass für die nationale Öffentlichkeit eher die Unterschiedlichkeit der Auffassungen herausgestellt wird, als die Erkenntnis, dass wir aus dieser Krise nur mit gemeinsamen Anstrengungen herauskommen. Dass Solidarität in der öffentlichen Wahrnehmung eher als Schwäche der Zahler gesehen wird, bestätigt den Krisenmodus, in dem sich Europa befindet.

W+M: Seit Juli hat Deutschland die Ratspräsidentschaft inne. Sie erleben alle sechs Monate wechselnde Präsidentschaften, welche Auswirkungen für Europa wird es denn haben, wenn jetzt nun Deutschland den Vorsitz hat?

Dr. Ehler: Das ist die Schlüsselratspräsidentschaft zur Zukunft der Europäischen Union. Das sieht man auch daran, dass diese Präsidentschaft als Dreierpräsidentschaft mit Portugal und Slowenien vereinbart und dazu für einen längeren Zeitraum als nur für sechs Monate etabliert wurde. So wurde Deutschland eine fast anderthalbjährige Führungsrolle zugebilligt. Das hat es so klar formuliert bislang noch nicht gegeben. Die Anforderungen und Erwartungen sind aber auch extremer Art. Selbst die Bundeskanzlerin, die ja gewisses Talent im Erwartungsmanagement und in der Abmoderation von übermäßigem Enthusiasmus besitzt, ist sich schon darüber im Klaren, dass bei aller vorsichtigen Positionierung im Vorfeld, die Erwartungshaltungen riesig sind und sie Großes leisten muss. Das Vertrauen in ihre Person ist groß. Aber bei den Schlüsselthemen der deutschen Ratspräsidentschaft, also dem Brexit, dem gemeinsamen EU-Haushalt, der Frage, wie man den europäischen Binnenmarkt wieder in Schwung bringt oder wie wir gemeinsam den Klimawandel meistern, reden wir von transformativen Veränderungen in der europäischen Wirtschaft und Politik.  Wir werden ein Klimaschutzgesetz beschließen, das 50-55 Prozent CO2-Reduzierung in 10 Jahren festlegt. Das ist jetzt nicht nur ein bisschen EU-Energiepolitik. Die Konsequenzen, die damit verbunden sind, sind wirklich transformatorischer Art für unsere Gesellschaft.  Die Chancen die damit verbunden sind aber auch erstaunlich.

Und deshalb glaube ich, dass am Erfolg dieser Ratspräsidentschaft auch die Zukunft Europas hängt. Diese Hoffnung teilen auch alle politischen Mitbewerber – nur die extreme Linke und Rechte hoffen gänzlich offen und in seltener Einigkeit auf ein Scheitern.  Wir sind schon an einem Scheidepunkt der Europäischen Union.

W+M: Was glauben Sie aus Ihrer Erfahrung heraus, könnte im besten wie auch im schlimmsten Fall passiert sein?

Dr. Ehler: Ganz nüchtern betrachtet, wenn wir über die Zurverfügungstellung von finanziellen Mitteln reden, dann ist das Positivszenario, dass wir einen Wiederanschub des europäischen Binnenmarktes haben, vor dem Hintergrund eines entscheidenden Schritts in Richtung Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Wir haben jetzt die Möglichkeit zu investieren, wir können jetzt innerhalb von zwei Jahren den 5G-Ausbau in ganz Europa voranbringen. Wir können auch das Thema Klimaschutz entwickeln, denn hier liegen große Potenziale. Angesichts der Tatsache, dass wir uns mit der E-Mobilität und der Batteriefertigung schon noch schwertun, wäre es großartig, wenn es uns gelänge, eine Wasserstoffzukunft auf den Weg zu bringen. Das Etablieren einer Wasserstoffinfrastruktur in die EU-Ökonomie wäre nicht nur ein technisches Modell, sondern ein systemintegratives und vor allem auch wirtschaftliches Modell mit dem Europa in relativ kurzer Zeit führend in der Welt sein könnte. Hier besteht aktuell eine einmalige Chance auch wieder gemeinsam dafür zu sorgen, die Technologieführerschaft zu übernehmen und die Wettbewerbsfähig der europäischen Industrie zu stärken.

Im schlimmsten Fall der Entwicklung verpassen wir diese Chancen und geben das Geld dafür aus, dass kurzfristig die Löcher in den sozialen Sicherungssystemen der Mitgliedsstaaten und in Frankreich die Eisenbahner ihren Sonderstatus der Frühverrentung behalten können. Versickert das Geld ohne einen innovativen Anschub zu kreieren, hat das System verspielt und das Vertrauen ist verloren.

Zusammengefasst gibt es große Chancen, aber auch große Risiken. In der Vergangenheit hat sich die europäische Industriepolitik mit Ausnahme der Luft- und Raumfahrt kaum groß entwickelt. Das war für Deutschland zu verkraften, weil es in Deutschland gut lief, aber nun braucht es eine abgestimmte Industriepolitik, um die großen Themen zu meistern und den Binnenmarkt für den globalen Wettbewerb fit zu machen. So wird Deutschland allein nicht in der Lage sein, eine zukunftsfähige Wasserstoffstrategie nur für den eigenen Markt erfolgreich zu verwirklichen.

W+M: Ist die grundsätzlich geforderte Einstimmigkeit innerhalb der EU nicht das größte Problem für so große Themen?

Dr. Ehler: Europa ist ein Europa der vielen Wahrheiten. Als gute Europäer sind wir gerne für das Mehrheitsprinzip.  Aber auch die deutsche Haltung ist in einem gewissen Grade immer anlassbezogen. Deutschland ist einseitig aus der Atomenergie ausgestiegen und wird demnächst auch aus der Braunkohle gehen. Deshalb wünschen wir uns eine darauf abgestimmte europäische Energiepolitik, die bei einigen Nachbarn nicht immer auf positive Resonanz stößt. Da wollen wir gerne allein entscheiden. Europa ist und bleibt ein Europa der Kompromisse. Einstimmigkeit wäre in der Außenpolitik entscheidend, damit wir gegenüber China und den USA nicht völlig an Einfluss verlieren. Und auch hier hat Deutschland Klärungsbedarf. Da muss man nur auf die differenzierten Auffassungen in der Politik und in der Bevölkerung zu militärischer Hilfe in der Nato oder auch in Europa schauen.

W+M: Welche Rolle kann denn ein Bundesland wie Brandenburg oder eine Region wie Ostdeutschland angesichts dieser großen Themen spielen?

Dr. Ehler: Eine wachsende Rolle. Ostdeutschland verfügt nicht über die Konzern-Zentralen und ist mehr klein- und mittelständisch geprägt. Deshalb spielte Europa in der politischen und wirtschaftspolitischen Wahrnehmung keine so große Rolle. Die europapolitischen Entscheidungen für Ostdeutschland wurden in Westdeutschland getroffen. Mittlerweile ist aber die Bedeutung des europäischen Binnenmarktes für die ostdeutsche Wirtschaft gewachsen. Es reicht nicht mehr aus, sich auf den nationalen Markt zu konzentrieren, die Lieferketten sind international auch für den industriellen Mittelstand bis hin zum Handwerk. Interessant ist, dass hier nicht nur eine starke Ost-West-, sondern auch eine Nord-Süd-Ausrichtung unserer Interessen an Bedeutung gewinnt. Nehmen Sie die Wiederbelebung der Hanse-Verbindungen mit Skandinavien oder die Wirtschaftsbeziehungen nach Südosteuropa. Wir haben hier starke eigene Interessen, die mit Europapolitik verknüpft sind.

W+M: Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, welche wäre dies?

Dr. Ehler: Unsere Generation hat die Aufgabe, die jüngere Generation in ein stabiles, freies und selbstbewusstes Europa zu führen. Wir selbst sind eine Übergangsgeneration, aber die jungen Menschen sollen verstehen, dass ihre zukünftige Arbeits- und Berufswelt in einem prosperierenden Europa stattfindet.  Zu verstehen, dass das, was uns verbindet in Europa so viel mehr ist, als das, was uns gelegentlich trennt. Das ist persönlich auch mein Hauptwunsch.

Der zweite Wunsch wäre, dass wir unsere eigenen Interessen ernster zu nehmen. Für meine Begriffe sind europäische Themen noch viel zu selten auf der Agenda der ostdeutschen Länder und ihrer Regierungschefs.

Dritter Wunsch: Unsere traditionellen Verbindungen zu Polen und Osteuropa sollten wir unbedingt weiter vertiefen und mit neuem Leben erfüllen. Dort liegt ein großes Wachstumspotenzial für die ostdeutsche Wirtschaft.

Das Interview führte Frank Nehring.

Dr. Christian Ehler, Foto: CCI_Event

Dr. Christian Ehler, seit 2004 im MdEP, seit 2019 EVP-Koordinator im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE). Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Kultur und Bildung (CULT). Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und Stellvertreter in der Delegation für die Beziehungen zu Israel sowie der Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum.