Ostdeutschlands Regierungschefs im Interview: Wo es die einst versprochenen „blühenden Landschaften“ heute gibt (3)
Ostdeutschlands Regierungschefs im Interview. Die Corona-Krise dominiert nach wie vor das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland. Dennoch hat sich WIRTSCHAFT+MARKT entschieden, den Blick nach vorn zu richten und ein Ereignis ganz besonders zu würdigen, das im Herbst 2020 ansteht – den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Aus diesem Anlass sprachen wir mit allen fünf ostdeutschen Ministerpräsidenten – Dr. Reiner Haseloff (CDU, Sachsen-Anhalt), Michael Kretschmer (CDU, Sachsen), Bodo Ramelow (Die LINKE, Thüringen), Manuela Schwesig (SPD, Mecklenburg-Vorpommern) und Dr. Dietmar Woidke (SPD, Brandenburg) – sowie mit Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD).
Die Regierungschefs ziehen eine Zwischenbilanz der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Länder, sprechen über blühende Landschaften, die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West und Ost sowie über die Stabilität von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft.
Lesen Sie heute Teil 3 unserer Interview-Serie.
Wo gibt es in Ihrem Bundesland konkret die einst von Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“?
Reiner Haseloff: Ich bin vor wenigen Wochen mit dem Zug von München nach Wittenberg gefahren. Und wenn man dann direkt an Leuna vorbeifährt und die imposante Nachtsilhouette betrachtet, kann man sich die Skyline so mancher Großstadt zumindest optisch ersparen. Unlängst war ich im Kohlekraftwerk Schkopau, einem kompletten Neubau nach der Wiedervereinigung. Von dem 130 Meter hohen Turm dort sieht man den „ValuePark“ von Schkopau, ehemals Buna. Heute sind dort Dow Chemical und viele andere Unternehmen zu Hause. Es ist eine Freude zu sehen, wie auf einem von Altlasten befreiten ehemaligen Chemiestandort, der seit über 100 Jahren existiert, durch politische Entscheidungen – maßgeblich von Helmut Kohl – ein hochmoderner Chemiepark entstanden ist. Das bedeutet auch sichere Arbeitsplätze. In der Raffinerie in Leuna konnten über 2.500 neue Arbeitsplätze entstehen, bei Dow fast 1.500. Das war nur möglich durch die Investitionen, die nach 1990 in die Standorte geflossen sind.
Michael Kretschmer: Es gibt ganz bemerkenswerte Fotos von Görlitz. Aufgenommen hat sie der Dresdner Fotograf Jörg Schöner – in der Zeit vor und nach der deutschen Wiedervereinigung. Es sind Dokumente des Verfalls – und der Auferstehung einer Stadt. Die Fotos sind an mehreren Orten in einer Ausstellung gezeigt worden und haben viele Menschen, darunter auch mich, tief beeindruckt. Görlitz ist nur ein Beispiel von vielen für den erfolgreichen Aufbruch und für Neubeginn. Es gibt viele andere. Flüsse, die wieder sauber sind. Die internationale Spitzenforschung, die hier zu Hause ist. Eine Kultur- und Theaterlandschaft, um die uns auch andere Bundesländer beneiden. Sanierte Museen, Burgen und Schlösser, spannende Ausstellungen, die Menschen weit über Sachsen hinaus begeistern. Gerade erst hat die renommierte New York Times Leipzig als „das neue Berlin“ gelobt. Wir haben allen Grund stolz zu sein auf die vielen Dinge, die in den vergangenen drei Jahrzehnten auch hier im Freistaat bereits gelungen sind und können mit großer Zuversicht und Selbstvertrauen an die Dinge herangehen.
Michael Müller: Das ist meines Erachtens kein sehr glückliches Sprachbild. Aber wir haben mit Sicherheit sich großartig entwickelnde Gebiete in unseren Zukunftsorten. Also in speziellen Stadtquartieren, wie dem EUREF-Campus in Schöneberg, bald in Tegel, in Buch, Adlershof oder auch im Siemens-Campus, wo eine komplett neue Infrastruktur wächst. Da entwickelt sich wirklich etwas Neues und das kann man am ehesten im übertragenen Sinn mit blühenden Landschaften vergleichen.
Bodo Ramelow:
Ich habe mit solchen Begrifflichkeiten so meine Schwierigkeiten. Viele derartige Sprachbilder wurden in der Vergangenheit bemüht, um Ostdeutschland zu beschreiben. Wahr bleibt: Von blühenden Landschaften können die Wenigsten leben und über den Prozess der Wiedervereinigung sollte sich vielleicht rückblickend jeder für sich mit einem Zitat von Willy Brandt im Hinterkopf vom 25.02.1990 ein Urteil bilden: „Wenn der Zug der deutschen Einheit rollt, dann kommt es darauf an, dass wenn’s irgend geht dabei niemand unter die Räder kommt.“ Gemeinsam haben Westdeutsche und Ostdeutsche in Thüringen ein Land aufgebaut mit einer Weltklasse Infrastruktur, mit exzellenter Bildung von der Krippe bis zur Universität, mit erfolgreichen Traditionsfirmen und innovativen Startups. Unsere Städte und Dörfer sind bei allen Herausforderungen, die zweifellos bestehen, ich nenne die demografische Entwicklung, gelebte und attraktive Heimat. Jena ist zweifellos das bekannteste nationale wie internationale Aushängeschild Thüringens, aber die Hidden Champions finden Sie überall im Freistaat, nicht zuletzt, weil nicht nur die aktuelle, sondern auch vorherige Landesregierungen konsequent an die Menschen im ganzen Land glauben und entsprechend investieren.
Manuela Schwesig: Unser Land hat sich sehr gut entwickelt. Im Tourismus, auch in der Gesundheitswirtschaft. Wir haben starke Unternehmen in Biotechnologie und Medizintechnik, erstklassige Zulieferer in der Automobil- und Flugzeugindustrie, einen sehr robusten handwerklichen Mittelstand.
Dietmar Woidke: Die Entwicklung ist in allen Landesteilen positiv, auch wenn die Rahmenbedingungen durchaus unterschiedlich sind. Deshalb finde ich es gut und richtig, dass das Bundeskabinett erst jüngst beschlossen hat, noch mehr Geld in die Infrastruktur zu investieren. Aber der Begriff „blühende Landschaften“ erinnert mich an eine andere Diskussion, die wir auch bei uns im Land sehr erfolgreich geführt haben – über das Tafelsilber der Deutschen Einheit, wie es genannt wurde. Gemeint war die Naturausstattung der neuen Länder und speziell Brandenburgs. Die Diskussion führte dazu, dass wir Naturparks, Biosphärenreservate und einen Nationalpark bekommen haben. Alles Dinge, die uns auch heute helfen.