Corona – eine kollektive disruptive Erfahrung. Was von der Krise bleibt.
Culture eats strategy for breakfast, wissen wir alle. Inzwischen kennen wir auch die zweite Hälfte des Satzes: … and culture eats crises for lunch. Die Frage ist nur: Wie geht es der Unternehmenskultur nach dem Lunch? Erfrischt und gestärkt oder träge und ermattet? Ein Beitrag des Zukunftsforschers Michael Carl.
Bislang ist die Krise ein Paradies für Controller. Sie sehen die Kosten sinken, akut und nachhaltig. Weltkonzerne wie Siemens haben angekündigt, auf 50 Prozent Reisen und 30 Prozent Bürofläche verzichten zu wollen. Nach der Krise, nicht in der Krise. Die Controller dieser Welt halten die Trumpfkarten. Zum Projektmeeting mit anschließendem Abendessen an das andere Ende der Republik? Ach bitte, das geht doch nun wirklich online. Und in der gesparten Reisezeit bitte fünf weitere Meetings. Wer nach der Krise dem Werben der großen Beratungshäuser erliegt und die Kosten der Krise mit einer weiteren klassischen Restrukturierung wieder hereinholen möchte, hört nur seinen Controllern noch nicht zu.
Wir stehen am Anfang eines Jahrzehnts,
das absehbar von erheblich mehr Wandel geprägt sein wird als das vorrangig auf Stabilität bedachte vorige, auch durch die aktuelle Krise. Wo immer das alte Normal ausgesetzt ist, ist die Disruption auch des eigenen Geschäftsmodells die einzige Option – neben abwartendem Beharren. Diese Chance zu erkennen, ist die eigentliche unternehmerische Herausforderung der Krise. Sie mit der eigenen Organisation tatkräftig anzugehen, der Lackmustest für die Unternehmenskultur.
Die Kandidaten sind offenkundig.
Als ob eine Messe ohne schmerzende Beine und lange Partys nicht echt wäre, beharren – Stand Anfang Juli – immer noch Messegesellschaften auf physischen Veranstaltungen für die zweite Jahreshälfte. Die Dmexco hat gerade von ihren Ausstellern gelernt, dass NRW gerade kein attraktives Reiseziel ist, und verlagert sich nun doch vollständig ins Digitale. Die Frankfurter Buchmesse hält derweil eisern an einem hybriden Konzept fest – und nächstes Jahr kommen ohnehin alle großen Messen wieder, sagt man. Wer es für ein einfaches Erfolgsmodell in der Krise hält, vertraute Geschäftsmodelle 1:1 ins Digitale übertragen zu wollen, befrage dazu kurz den Zeitungsverleger seines Vertrauens. Ist es nicht.
Die Disruption ist eine Frage der Dauer.
Wer für seinen Vertrieb nicht auf Messen setzen kann, wird andere Lösungen entwickeln müssen. Stellen diese sich als wirksamer und günstiger heraus, wird der langjährige Aussteller im kommenden Jahr nur noch Besuchertickets kaufen. Ist der Schwellwert unterschritten, bleibt das Messetor unten. Wer in den Rathäusern von Leipzig, Frankfurt, Nürnberg treibt den Wandel der bisherigen Messestädte voran?
Eine Dynamik wie aus dem Lehrbuch:
Der Einbruch ist absehbar, kommt für den Etablierten dennoch überraschend. Die Platzhirsche betonen die Überlegenheit ihrer Angebote; die Kunden setzen derweil auf individuell bessere und günstigere Lösungen. Sie entziehen damit den bisherigen Akteuren die kritische Masse. Es folgt das jähe Ende eines erfolgreichen Geschäftsmodells. Das ist die kollektive disruptive Erfahrung, vor der wir stehen.
So in naher Zukunft zu beobachten in Hotellerie und Gastronomie, Tourismus, Eventbranche. Jedes Geschäftsmodell, das auf Nähe beruht, steht zumindest bereit zur Disruption. Die Großen der Beraterbranche sehen ihre Honorare massiv unter Druck und es gäbe wahrscheinlich keinen unglücklicheren Zeitpunkt, einen Flughafen in Betrieb zu nehmen.
Wer sich in diesen Branchen nicht wiederfindet, arbeitet mit einiger Wahrscheinlichkeit für die Automobilindustrie und dort ist ja bekanntlich alles in Ordnung.
Der Autor
Michael Carl (51) ist Gründer und Direktor des carl institute for human future in Leipzig. Sein Institut erforscht den Wandel von Branchen und Geschäftsmodellen. Er ist gefragter Berater und Begleiter von Transformations- und Entwicklungsprozessen.