Ostdeutschlands Regierungschefs im Interview. Die Corona-Krise dominiert nach wie vor das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland. Dennoch hat sich WIRTSCHAFT+MARKT entschieden, den Blick nach vorn zu richten und ein Ereignis ganz besonders zu würdigen, das im Herbst 2020 ansteht – den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Aus diesem Anlass sprachen wir mit allen fünf ostdeutschen Ministerpräsidenten – Dr. Reiner Haseloff (CDU, Sachsen-Anhalt), Michael Kretschmer (CDU, Sachsen), Bodo Ramelow (Die LINKE, Thüringen), Manuela Schwesig (SPD, Mecklenburg-Vorpommern) und Dr. Dietmar Woidke (SPD, Brandenburg) – sowie mit Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD).
Die Regierungschefs ziehen eine Zwischenbilanz der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Länder, sprechen über blühende Landschaften, die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West und Ost sowie über die Stabilität von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft.
Lesen Sie heute Teil 2 unserer Interview-Serie.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Errungenschaften, die seit 1990 erreicht wurden?
Reiner Haseloff: Wir haben es nach den unmittelbaren Umbruchjahren geschafft, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze Jahr für Jahr gestiegen ist. Dieses Beschäftigungswachstum hat uns in die Nähe der Vollbeschäftigung gebracht. Als ich vor 18 Jahren in die Landesregierung eingetreten bin, war die Arbeitslosenquote vier Mal höher als heute und die Unterbeschäftigungsquote noch deutlich höher. Dass wir heute eine Arbeitslosenquote um die sechs bis sieben Prozent haben und damit fast auf einem Niveau mit Nordrhein-Westfalen liegen, ist ein Zeichen von Wirtschaftskraft und auch von Innovationskraft, die eng verbunden sind mit unseren Leitbranchen Chemie, Automobilzulieferung, Agrar- und Ernährungsgüterwirtschaft. Das zeigt sich auch beim Bruttoinlandsprodukt. Es ist seit 2014 jedes Jahr real gewachsen. Zudem ist auch die Arbeitsproduktivität in Sachsen-Anhalt von 67 Prozent des gesamtdeutschen Wertes im Jahr 2000 auf aktuell 83 Prozent gestiegen.
Michael Kretschmer: Die Mauer trennte nicht nur Ost und West. Sie trennte Familien und Freunde. Es ist wunderbar, dass sie seit gut drei Jahrzehnten weg ist. Unglaublich mutige Menschen – darunter besonders viele aus Sachsen – haben dafür viel riskiert. Ihnen ist zu verdanken, dass das SED-Regime zerfiel. Dass der Staat endlich am Ende war, der an der Grenze auf seine Bewohner schießen ließ, weil sie in die Freiheit wollten, der Menschen wegsperrte und auf sie einprügelte, sobald sie in der Öffentlichkeit aufbegehrten. Das wiedervereinigte Land, in dem wir heute leben, ist sicherlich nicht perfekt. Aber wir leben im besten Deutschland, das wir je hatten: Mit einer funktionierenden Demokratie, mit Meinungsfreiheit und immer weiter wachsendem Wohlstand.
Michael Müller: Mit Blick auf die Wirtschaft – dass Industrie wieder eine Rolle spielt. Wer hätte das gedacht? Schließlich hat Berlin nach der Wende rund 200.000 Industriearbeitsplätze verloren. Jetzt nimmt die Industrieproduktion stark zu, nicht nur bei Siemens, auch bei Bayer, Berlin Chemie, BMW, Mercedes. Der zweite große Schritt nach vorn ist uns in der Wissenschafts- und Forschungspolitik gelungen. Meine These lautet: 90 Prozent der wirtschaftspolitischen Erfolge sind uns gelungen, weil wir diese Schnittstelle zur Wissenschaft haben. Das macht uns attraktiver als andere Regionen.
Bodo Ramelow: Wir verzeichnen einen erfolgreichen Re-Industrialisierungsprozess. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Thüringer Bruttowertschöpfung hat sich seit Mitte der 90er Jahre etwa verdoppelt und liegt mit knapp einem Viertel heute auf westdeutschem Niveau. Mit einer Arbeitslosenquote von 5,3 Prozent im Jahresdurchschnitt 2019 liegt Thüringen deutlich unter der Quote der ostdeutschen Länder (6,4 Prozent) und an 7. Stelle im bundesweiten Ranking. Da wir vor kurzem den internationalen Frauentag begangen haben, lassen Sie mich auch hier ein paar interessante Zahlen nennen: Mit 64 Prozent weist Thüringen nach Sachsen im Bundesvergleich die zweithöchste Beschäftigungsquote für Frauen aus. Bei den Männern liegen wir nach Bayern und Baden-Württemberg auf Rang 3. Bemerkenswert ist, dass die Frauen-Beschäftigungsquote bei uns in Thüringen noch über der Männerquote von beispielsweise Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz liegt.
Manuela Schwesig: Das Wichtigste ist, dass sich junge Menschen heute eine Zukunft in Mecklenburg-Vorpommern aufbauen können. Das war früher viel schwerer. Ich habe das Anfang der neunziger Jahre, damals noch in Brandenburg, selbst erlebt. Mein Vater wurde arbeitslos. Viele meiner Freunde sind nach der Schule in den Westen gegangen, weil die Berufsaussichten dort besser waren. Heute gibt es bei uns ausreichend Arbeits- und Ausbildungsplätze. Und mancher, der in den neunziger Jahren weggegangen ist, kommt heute zurück. Weil es inzwischen auch bei uns gute Chancen gibt, weil wir die Elternbeiträge für die Kita abgeschafft haben und auch weil sich die Umwelt in einem besseren Zustand befindet als in den großen Ballungszentren.
Dietmar Woidke: Der größte Erfolg, den wir in den 1990er Jahren hatten, war der Erhalt industrieller Kerne. BASF in Schwarzheide, Märkische Faser in Premnitz, das PCK in Schwedt, EKO Stahl in Eisenhüttenstadt oder Riva Stahl in Hennigsdorf und Brandenburg an der Havel seien hier nur beispielhaft genannt. Diese industriellen Kerne haben geholfen, dass wir rund herum eine mittelständische Wirtschaft aufbauen konnten. Jetzt sind wir in eine neue Phase eingetreten. In den industriellen Kernen kommen wir in einen Ausbau, der zukunftsorientiert ist und bei dem neue Industriearbeitsplätze entstehen. Auch und besonders in der Lausitz. Sozial war es eine schwierige Situation. Anfangs drohte uns der Bund Mittelkürzungen im Länderfinanzausgleich an, für den Fall, dass wir die Kitastandards nicht absenken. Oder die Rolle der Frau in der Arbeitswelt. Damals hatten wir eine Diskussion, die darin gipfelte, dass man uns sagte, wir hätten in Ostdeutschland doch eine viel geringere Arbeitslosenquote – die lag mancherorts bei weit über 20 Prozent -, wenn wir die Frauen aus der Arbeitslosenstatistik rausnehmen würden. Heute lachen wir darüber. Aber damals war die Gleichberechtigung der Frau im Arbeitsleben keineswegs gesichert. Auch das Thema Polikliniken war umstritten. Sozialministerin Regine Hildebrandt kämpfte wie eine Löwin für den Erhalt. Und heute haben wir diese Strukturen wieder. Deutschland wäre insgesamt besser dran gewesen, wenn man früher und offener auf durchaus positive Entwicklungen aus DDR-Zeiten reagiert hätte. Es war vieles schlimm, aber weiß Gott nicht alles schlecht.