Donnerstag, März 28, 2024

Ostdeutsche Regierungschefs im W+M-Interview: So steht es um die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern

Neue Serie in W+M-online: Ostdeutschlands Regierungschefs im Interview.
Teil 1:

Die Corona-Krise dominiert nach wie vor das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland. Dennoch hat sich WIRTSCHAFT+MARKT entschieden, den Blick nach vorn zu richten und ein Ereignis ganz besonders zu würdigen, das im Herbst 2020 ansteht – den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Aus diesem Anlass sprachen wir mit allen fünf ostdeutschen Ministerpräsidenten – Dr. Reiner Haseloff (CDU, Sachsen-Anhalt), Michael Kretschmer (CDU, Sachsen), Bodo Ramelow (Die LINKE, Thüringen), Manuela Schwesig (SPD, Mecklenburg-Vorpommern) und Dr. Dietmar Woidke (SPD, Brandenburg) – sowie mit Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD).

Die Regierungschefs ziehen eine Zwischenbilanz der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Länder, sprechen über blühende Landschaften, die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West und Ost sowie über die Stabilität von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft.

Lesen Sie heute Teil 1 unserer Interview-Serie.

In diesem Jahr feiert Deutschland den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung. Wie würden Sie den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung Ihres Bundeslandes nach drei Jahrzehnten im geeinten Deutschland bewerten?

Foto: W+M

Reiner Haseloff: Der jeweilige Stand der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern weist seit 1990 grundsätzlich Jahr für Jahr einen Aufwärtstrend aus, wenn wir die unmittelbaren Umbruchjahre am Beginn der 1990er-Jahre etwas außen vor lassen. Von den harten Fakten her unterscheiden sich die Zahlen in den fünf neuen Bundesländern nur marginal. Auch Sachsen-Anhalt hat es geschafft, einen Schub nach vorn zu machen, im Rahmen der historisch gegebenen Möglichkeiten und auch vom Instrumentenkatalog her. Wir haben versucht, das Maximum zu erreichen, können allerdings die Jahrzehnte zuvor nicht ungeschehen machen. Dieses Erbe werden wir auch in den kommenden Jahrzehnten noch mit uns herumtragen müssen. Wer glaubt, die unterschiedlichen Wege, die der Westen und der Osten in der Historie Deutschlands gegangen sind, lassen sich völlig ausgleichen, der weiß über Ökonomie und Geschichte nur wenig Bescheid. Die nüchternen Fakten ergeben hier ein klares Bild: Es gibt nach wie vor ein Gefälle hinsichtlich der Löhne, der Unternehmensdichten, der Unternehmensgrößen und der Branchenverteilung.

Foto: Matthias Rietschel

Michael Kretschmer: Sachsen hat sich zu einer dynamischen und erfolgreichen Industrieregion im Herzen von Europa entwickelt. In kaum einem anderen Bundesland gibt es eine so große Bandbreite erfolgreicher industrieller Wertschöpfung – von der Automobilindustrie, über den Maschinen- und Anlagenbau und die Mikroelektronik bis zur Textilindustrie. Hinzu kommen – ebenso breit aufgestellt und stark – Handwerk, Tourismus und Dienstleister. Außerdem ist der Freistaat ein gutes Pflaster für Startups und Zukunftstechnologien wie künstliche Intelligenz. Die Wirtschaft hat sich auch deshalb gut entwickelt, weil hier in den vergangenen drei Jahrzehnten sehr viele Menschen auch in schwierigen Zeiten nach vorne geschaut, Neues gewagt und aufgebaut haben. Darauf wird es auch jetzt ankommen. Die Coronavirus-Pandemie ist die größte Bewährungsprobe für unser Land seit der deutschen Wiedervereinigung. Die Auswirkungen werden noch lange zu spüren sein. Für uns als Staatsregierung ist ganz klar: Wir stehen an der Seite der Unternehmerinnen und Unternehmer. Gemeinsam mit ihnen und der Bundesregierung kämpfen wir darum, dass kein gesundes Unternehmen in dieser Situation aufgeben muss. Der Freistaat Sachsen hat deswegen in kürzester Zeit ein eigenes Programm aufgelegt. Der Bund hat ebenfalls zahlreiche Maßnahmen beschlossen, damit wir möglichst gut durch diese schwierige Zeit kommen. Damit es nach den Einschränkungen möglichst schnell wieder aufwärts gehen kann, müssen wir uns aber schon jetzt Gedanken über ein großes Konjunkturprogramm machen.

Foto W+M

Michael Müller: Für Berlin waren speziell die letzten fünf, sechs Jahre sehr gute Jahre. Gerade was die wirtschaftliche Entwicklung betrifft. Die Stadt hatte sich davor schon gut entwickelt, insbesondere als Kulturmetropole. Aber wir hatten eine Menge im wirtschaftlichen Bereich aufzuholen. Jetzt haben wir spektakuläre Ansiedlungserfolge und die Unternehmen, die hier geblieben sind, investieren zum Teil massiv. Dadurch sind viele neue Arbeitsplätze entstanden, die Arbeitslosigkeit wurde zurückgedrängt. Bei den Wachstumsraten lagen wir in den letzten Jahren immer über dem Bundesdurchschnitt. Dennoch wollen wir uns nicht zurücklehnen. Es ist im Vergleich zu anderen Bundesländern noch Luft nach oben. Und nun müssen wir auch die weiteren Entwicklungen und Folgen der Corona-Krise abwarten.

Bodo Ramelow, Foto: W+M

Bodo Ramelow: Wir haben das Tal der Tränen verlassen – in mehrfacher Hinsicht. Die doppelte De-Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und nach 1990 hat aber tiefe Spuren hinterlassen. Private wie staatliche Forschung und Entwicklung, als Grundlage für Innovation, Wirtschaftswachstum und Steigerung der Wertschöpfung hinken deshalb signifikant hinter den westdeutschen Ländern her. Dass sollte man auch im Westen zur Kenntnis nehmen. Wahr ist aber auch, Thüringen wäre in einer Rangliste mit den 27 EU-Staaten auf Platz 10 noch vor Italien mit seinem BIP pro Kopf.

Mauela Schwesig, Foto: Staatskanzlei MV

Manuela Schwesig: Mecklenburg-Vorpommern ist in den letzten 30 Jahren gut vorangekommen. Die Wirtschaftskraft ist deutlich gestiegen, die Arbeitslosigkeit so niedrig wie nie zuvor. Städte, Dörfer und Verkehrswege sind umfassend modernisiert worden. Wer auf Bilder aus dem Jahr 1990 schaut, erkennt viele Orte kaum wieder. Aber, und auch das gehört zu einer ehrlichen Bilanz, wir haben trotz aller Fortschritte noch keine gleichwertigen Lebensverhältnisse erreicht, weil eben auch die westdeutschen Länder Fortschritte gemacht haben. Ich würde sagen: Das Glas ist zu drei Vierteln voll.

Dr. Dietmar Woidke, Foto: W+M

Dietmar Woidke: Es gab unterschiedliche Phasen, die vergleichbar sind mit der Entwicklung in ganz Ostdeutschland. Wenn ich an die 1990er Jahre denke, war das eine Zeit, wo Industriearbeitsplätze verteidigt wurden, wo die Landespolitik in der Situation war, den Retter in der Not zu spielen. Manchmal erfolgreich, manchmal auch nicht. Mit all den Konsequenzen, die das dann für die ökonomische und soziale Leistungsfähigkeit des Landes hatte. In den späteren 2000er Jahren gab es einen Prozess der Konsolidierung. Die Arbeitslosigkeit nahm ab und liegt jetzt bei unter sechs Prozent. Heute haben wir eher das Problem des Fachkräftemangels. Als Land haben wir uns auf den Weg gemacht, den Sektor Erneuerbare Energien aufzubauen. Heute sind wir in einer Phase, in der wir optimistisch in die Zukunft blicken und sagen können, dass wir in den kommenden Jahrzehnten eine noch stärkere Industrieregion werden wollen. Brandenburg hat alles, was es braucht, um in diesem Jahrzehnt eine Gewinnerregion zu werden.

 

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