Freitag, März 29, 2024

Neue Bundesländer 2035 – Neue Chancen – Teil 3: Berufe von heute: Know-how-Lücken von morgen

Teil 3 der Serie „Neue Bundesländer 2035 – neue Chancen“ – strategische Überlegungen zu neuen Strukturen für Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigung

Ob mit oder ohne Corona-Krise: Vertraute Umfelder sind im schnellen Wandel begriffen – oft sprunghaft, wie diese Tage und Wochen jetzt gerade zeigen. Vor allem zwei der wichtigsten Zukunftsbereiche – die schulische und die berufliche Bildung – navigieren derzeit ohne vorausschauende Kurskorrekturen und in Unkenntnis des Zielhafens unbeeindruckt wie träge Tanker durch die Stürme der Zeit. Die Annahme, dass die Ostdeutschen mit Bildungsinhalten und -methoden von gestern und vorgestern die Herausforderungen von morgen erfolgreich meistern, scheint mir mehr als nur auf tönernen Füßen zu stehen. Von Thomas Strobel, Zukunftslotse, München.

Zukunftsvordenker mit einem offenen 360 Grad-Blick und Neugierde auf übermorgen sind hilfreiche Ansprechpartner, wenn es um das Erkennen von längerfristigen Trends „für mein Geschäft, meine Branche oder meine Region“ geht. Stellen wir uns also die Frage, welche Wandelerfordernisse den Arbeitsmarkt Ost neben dem Technologiegeschehen eher schneller als gedacht verändern. Und noch wichtiger: Welche Chancen und Handlungsoptionen kann ein Standort daraus gewinnen, ggf. auch durch Früherkennung und der Projektion in Zukunftsbilder?

Thomas Strobel, Zukunftslotse
Foto: Strobel

Welche Trends beeinflussen den Arbeitsmarkt Ost perspektivisch?

Die Digitalisierung wird als einer der Hauptfaktoren die Industrieländer in absehbarer Zeit umkrempeln: Künstliche Intelligenz, das Überlappen von Biotechnologien und IT und der Einsatz innovativer Materialien sind das eine, der Zwang zu Emissionsreduzierung, Ressourceneinsparung, Nachhaltigkeit, geschlossenen Produktkreisläufen und damit auch zur Renaissance regionaler Wirtschaftskreisläufe kommen noch hinzu. Ebenso wie die strukturelle Überalterung der Gesellschaft und das sich ankündigende Aus für solche Rohstoffe wie Kohle, Erdöl und Erdgas, die samt dem Klimawandel bereits heute Auswirkungen auf die Inhalte, wie auch auf die Art und Weise von Beschäftigungsplanung haben sollten.

Fünf ostspezifische Trends haben aus meiner Sicht darüber hinaus eine erkennbar verändernde Hebelwirkung auf die Arbeitswelten der Fachkräfte und Ingenieure von morgen:
1. Der Fachkräftemangel nimmt allein dadurch zu, dass wesentliche Wissensanteile aus der bisherigen Ausbildung in diesem Jahrhundert, spätestens in zehn Jahren so nicht mehr gebraucht werden. Andererseits erlauben es Technologien wie Augmented und Virtual Reality Menschen am Ort ihrer Arbeitsaufgaben online mit bedarfsgerecht bereitgestelltem Wissen und Handlungsanleitungen zu unterstützen.
2. Im Zuge des absehbaren Enddatums für die Braunkohleförderungen werden parallel einige Zehntausend Arbeitsplätze abgebaut; neue Beschäftigungsmöglichkeiten (nicht nur dank Tesla & Co.) müssen bis dahin als Zukunftsperspektive für einen Großteil der dann Freigesetzten gefunden oder geschaffen worden sein.
3. Die Mobilitätsbedürfnisse – Stichworte hier sind Car-Sharing sowie neue Angebote an Mobilitätsdienstleistungen – werden sich nicht nur durch Hybrid- und E-Fahrzeuge verändern. Neu gedachte systemische Konzepte, wie sie beispielsweise gerade im Südharz für die flächendeckende E-Mobilität in einer ansonsten traditionell eher schlecht durch den ÖPNV erschlossenen Region entstehen, sind gefragt.
4. Landregionen wie Uckermark, Altmark oder Prignitz dünnen bevölkerungsmäßig immer weiter aus; wobei das drohende personelle Vakuum bei vorhandener Grundinfrastruktur (Wohngebäude, leer stehende Gewerbeimmobilien, Straßen, Elektro, Internet) sich schnell in einen Zuzugstrend von Zuwanderern und einkommensschwachen sozialen Gruppen umwandeln könnte. Die nachhaltige Schaffung lebenswerter Regionen mit lebenserleichternder Infrastruktur muss hier in der Zukunftsgestaltung Vorrang bekommen. Denn zugleich weiten sich Ballungszentren wie Berlin, Leipzig, Dresden oder Jena deutlich in die jeweils regionalen Umfelder mit der Folge von weit mehr Pendlern mit längeren Fahrtstrecken aus. Selbst Greifswald bietet sich den Berlinern heute schon als Schlafstadt an.

Hochhaus mit Baum – Die nächsten Generationen werden Wirtschaft, Leben und Umwelt besser auf einen Nenner bringen müssen – Foto: Oertel

5. Durch die Land- und Forstwirtschaftsdominanz beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und in Teilen von Sachsen-Anhalt bzw. Thüringen wird sich dort Klimawandel stark auswirken; andererseits haben genau diese Regionen auch präventive Handlungsoptionen, wenn wir an Trends wie Precision Farming oder nachwachsende Rohstoffe und die daran anknüpfenden Verarbeitungs- und Transportabläufe denken.
Deutschland gilt nach wie vor im Ausland beispielsweise in Sachen Berufsausbildung als Maßstab: Die Azubiquote ist hoch; jährlich bereichern Heerscharen junger Menschen mit frischem Berufsabschluss die Belegschaften. Auch die Einsteigerzahlen für 2019 scheinen das auf den ersten Blick zu bestätigen. Gemessen an abgeschlossenen Neuverträgen von Lehrlingen, sind sie summarisch sicherlich vorbildlich und gewaltig, müssen unter der Zukunftslupe jedoch kritisch hinterfragt werden.

Angebot an Berufsbildungsinhalten ist weiterhin eher traditionell

Keiner kann heute schon wissen, was auf die Lehrlinge von morgen und damit die Berufseinsteiger der Zwanziger bereits an der Schwelle zum nächsten Jahrzehnt zukommt. Fakt jedoch ist: Bis dahin werden sich die Arbeitswelten im Vergleich zu heute massiv geändert haben. Wenige Gedanken dazu: Routinearbeiten am Schreibtisch – von Steuerberatung über Buchhaltung bis hin zu Kanzleiarbeiten – werden durch die Digitalisierung in großen Teilen ebenso übernommen wie die konventionelle Zählerstanderfassung oder Aufgaben in Wartung und Instandhaltung, die oft heute noch den Besuch vor Ort erfordern. Automechaniker werden zwar noch immer schrauben und werkeln; aber die Fahrzeuge haben sich bis dahin komplett verändert.
Wer also kann mit welchen Fähigkeiten auf der digitalen Bugwelle mitreiten, wer kümmert sich wie und mit welchem interdisziplinären Wissen um mehr Sozialintegration von Alten und Schwachen, wer bringt sich in vollkommen neue Wertschöpfungs- und Stoffkreisläufe ein, baut energieautarke Gebäude oder scannt mit Überwachungsdrohnen Gefährdungssituationen oder den aktuellen Erntestatus aus der Luft?
Betrachten wir die Zahlen: Mit welchen Berufen ging die Masse der 525.000 jungen Leute in der vom Bundesinstitut für Berufsbildung in 323 erfassten Ausbildungsrichtungen 2019 als Azubis an den Start – ahnend, dass Digitalisierung, Kreislaufwirtschaft, neue Mobilität und diverse Revolutionen im Bauwesen neues Rüstzeug erfordern? Und wie wird darin berücksichtigt, dass immer mehr Menschen beruflich flexibel und weiterqualifizierbar sein müssen sowie tendenziell weitaus selbstständiger und unternehmerisch eigenverantwortlich agieren werden?

Die Top-20 der beliebtesten Ausbildungsrichtungen scheinen eher die Vergangenheit und Gegenwart als die Zukunft zu bedienen.
Ausbildungsberufe 2019 neue Lehrverhältnisse
Kaufmann/ -frau für Büromanagement 26.823
Kraftfahrzeugmechatroniker/-in 22.803
Kaufmann/-frau im Einzelhandel 22.764
Verkäufer/-in 22.212
Industriekaufmann/-frau 17.220
Medizinischer Fachangestellte/-r 16.881
Fachinformatiker/-in 16.440
Elektroniker/-in 14.898
Zahnmedizinischer Fachangestellte/-r 14.064
Anlagenmechaniker/-in für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik 13.338
Kaufmann/-frau im Groß- und Außenhandel 13.137
Industriemechaniker/-in 12.663
Fachkraft für Lagerlogistik 10.653
Friseur/-in 9.483
Bankkaufmann/-frau 9.210
Mechatroniker/-in 8.658
Hotelfachmann/-frau 8.508
Koch/ Köchin 8.205
Tischler/-in 8.013
Elektroniker/-in für Betriebstechnik 7.170

Textilausbildung schon heute unterbelichtet

Smarttextile-Anwendungsfelder

Nehmen wir eine Branche unter die Lupe, die in den letzten Jahrzehnten einen kräftigen Paradigmenwechsel erfahren hat und heute ein hochmoderner Werkstoffproduzent ist: die Textilwirtschaft mit ihrem schnell wachsenden Segment technischer Textilien.
Der neue Langstrecken-Airbus 350-900 XWB ist so ein Anwendungsbeispiel: 53 Prozent seiner tragenden Strukturen sind heute schon aus Kohlefaserverbundkunststoff (CFK) und damit längst nicht mehr aus Aluminium. Leichtbau-Hybridmaterialien finden sich in Windrädern ebenso wieder wie in Automobilkarossen und im Textilbeton, der eine der Grundlagen für das gerade auch in Sachsen etablierte Bauen der Zukunft bildet.

Wie begegnet das gegenwärtige Ausbildungssystem diesen Perspektiven? Mit 1.563 textilnahen Azubis (das entspricht 0,3 Prozent aller Berufsschüler – womit schon rein qualitativ am Bedarf der Zukunft vorbeigezielt wird), die mit solchen Traditionsberufen wie Raumausstatter, Maßschneider, Textil- und Modenäher oder Textilreiniger an den Geschäftschancen der 30er- und 40er-Jahre mitarbeiten sollen. Unter den 14 ausgewiesenen textilen Lehrberufen weisen lediglich Produktveredler und technische Konfektionäre ansatzweise in Richtung technischer Textilien, die heute schon über 50 Prozent zu den Erlösen von Textil und Mode beitragen – Tendenz steigend. In wenigen Jahren sollen beispielsweise wesentliche Funktionen von Smartphones unter dem Stichwort Smart Textiles in die Kleidung integriert werden; schon heute gibt es leitende Fäden, die leuchten, wärmen, sensorisch überwachen oder Daten übertragen. Welcher Textil-Lehrling wird während seiner Ausbildung je von diesen nahen Zukunftsszenarien hören oder gar Praxiserfahrungen damit sammeln?

Gesucht: Mehrsprachige Zusammenhangversteher

Offensichtlich sind die Berufe von heute eines unserer Probleme bei den Erfolgsfaktoren von morgen. Doch es geht nicht nur um Berufsbildungs- oder Qualifizierungsinhalte. Wichtiger als das, was ein Mensch gelernt hat, wird sein, was er durch die Kombination seines persönlichen Wissens mit Erfahrungen in der Praxis tatsächlich gut kann. Das spricht unter anderem gegen klassische Zeugnisse und für praxisnahe Tests von Lösungs- und Anwendungsfähigkeiten.
Was wir am dringendsten brauchen, sind Menschen, die in der Umgebung der Zukunft in Wirkzusammenhängen und Lösungskonzepten denken können.
Dazu dürfen Schulen, Fachhochschulen und Universitäten der Zukunft keine Wissensträger in Fachsilos ausbilden, sondern müssen Zusammenhangversteher mit kreativen Fähigkeiten und Zukunftsvorstellungen hervorbringen, die anspruchsvolle Aufgaben erfüllen oder Unternehmen gründen können. Denn Arbeiten mit hohem Wiederholcharakter werden bevorzugt automatisiert werden. Mit Blick auf Wohl oder Übel der Künstlichen Intelligenz muss die maschinelle Unterstützung für Menschen beherrschbar bleiben – denn der Glaube an künstliche Intelligenz ohne künstliche Dummheit, ist falscher Optimismus und wird vorerst ein Wunschtraum bleiben. Ich schließe mich deshalb dem Vorschlag des Neurobiologen Henning Beck an, der „für eine umfassende Allgemeinbildung (plädiert). Nur so ist es möglich, das zu entwickeln, was man nicht googeln kann, nämlich das Wissen darüber, wie die Dinge zusammenhängen.“
Welchen Einfluss hat das beispielsweise für die Ingenieurausbildung in den neuen Bundesländern, wo viele Hochschulen mit ihren Studiengängen die Bedarfe der Zukunft im Blick haben? Aus meiner Sicht wird sich der erfolgreiche Ingenieurnachwuchs (oft Facharbeiter, die erst später studieren) von den aktuellen Absolventenjahrgängen vielfach durch Dreisprachigkeit und mobilen Arbeitsalltag unterscheiden (müssen). Mit dem Zusammenwachsen einst getrennter Fachrichtungen (bei Textil sind das unter anderem Chemie, Biologie, Physik, Elektronik, Betonbau, Konstruktion, Medizintechnik und Humanmedizin) und einer zunehmenden Technologieintegration als Voraussetzung für die Entwicklung ressourceneffizienter Innovationen „Made in Germany“ hat sich das Umfeld der Ingenieurtätigkeit heute bereits verändert. Hinzu kommt die weitere IT-Durchdringung aller Lebensbereiche – wichtige Rahmenbedingungen, die die künftige Ingenieurausbildung im Hinblick auf effiziente, umweltfreundliche Lösungen der Zukunft prägen werden.
Daraus folgen heute noch ungewöhnliche Berufsinhalte für die Ingenieure von morgen. Aufgrund der wachsenden interdisziplinären Zusammenarbeit wird künftig die Kompetenzbreite zusammen mit ausgeprägten kommunikativen Fähigkeiten wichtiger sein, als eng begrenztes Fachwissen in der Tiefe. Für den Ingenieur der Zukunft gewinnt deshalb die Offenheit für den Austausch mit benachbarten und sogar fremden Fachgebieten an Bedeutung. Dazu gehörten dann auch die notwendigen Voraussetzungen für die übergreifende Zusammenarbeit in interdisziplinär und multikulturell besetzten Teams. Mit breiter Altersspanne der Teammitglieder, die von 25 bis 75 reichen kann.

Bei Bauen der Zukunft werden zahlreiche Kompetenzen aus anderen Wissenschaftsfeldern mehr denn je eine Rolle spielen: Elektronik, Textil, Biologie sind nur einige davon. Foto: Oertel

Für den qualifizierten Arbeitnehmer am Ende des Jahrzehnts – egal ob Fachkraft oder Ingenieur – sind zwei existenzielle Dinge abzusehen: So wird sein Wert am Arbeitsmarkt stark von neuen Faktoren bestimmt. Neben beruflicher Mobilität, hoher Flexibilität und Mehrsprachigkeit sollte eine gut vermittelbare Erwerbsperson auch über hochwertige Zugänge zu Netzwerken verfügen. Und: Eine selbstfinanzierte permanente Weiterbildung als Zukunftssicherung wird eher die Normalität als die Ausnahme sein. Die fachliche Wertsteigerung und Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt wird künftig stärker als heute zur Privatsache. Fachkräfte der Zukunft müssten auch ausbildungsseitig auf neue Rollen als Wissensmakler, als internationale Netzwerker bzw. als multidisziplinäre Systemkoordinatoren vorbereitet werden. Egal ob sie angestellt oder als selbstständiger Unternehmer ihre Kompetenzen am Arbeitsmarkt anbieten. Vor allem werden die Ingenieure der nächsten Jahrzehnte mit ihrer Arbeit an drängenden Zukunftsfragen wie Umweltverträglichkeit, Nachhaltigkeit, Recycling und Ressourceneffizienz deutlich mehr Verantwortung übernehmen müssen.

Thomas Strobel, Foto: Ralf Succo

Zum Autor:

Thomas Strobel ist Geschäftsführer der FENWIS GmbH (www.fenwis.de). Als Dipl.-Ing. für Maschinenwesen gilt der 56-Jährige mit beruflichen Stationen u. a. in branchenübergreifenden Strategie- und Planungsteams sowie im Innovationsmanagement als besonders industrienah.
In seiner Rolle als Zukunftslotse ist er methodisch und inhaltlich darauf spezialisiert, aus relevanten Zukunftstrends erfolgversprechende Geschäftsstrategien und neue Geschäftsmodelle sowie Umsetzungspläne abzuleiten.

 

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