Haseloff: „Eine wirkliche Angleichung der Lebensverhältnisse wird es nur dann geben, wenn die Forschungs- und Wirtschaftslandschaft auf gleichem Niveau angekommen ist“
W+M sprach mit Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU) über die Wirtschaftskraft seines Landes, die Perspektiven der „Kenia“-Koalition und den künftigen Bundesvorsitzenden der CDU. Das Gespräch fand im Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und –automatisierung IFF in Magdeburg.
W+M: Herr Dr. Haseloff: Für dieses Interview haben Sie uns ins Magdeburger Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF eingeladen. Warum ist dieser Ort für Sie von so großer Bedeutung?
Reiner Haseloff: Dieser Ort hat eine wissenschaftliche DDR-Vorgeschichte und konnte nach der Evaluierung – wie auch andere Orte in unserem Land – in unserer neuen Zeit spürbar weiterentwickelt werden. Dieses Institut zählt zu den Wachstumskernen für Innovationen in Sachsen-Anhalt.
W+M: In diesem Jahr feiert Deutschland den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung. Wie würden Sie den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung Ihres Bundeslandes nach drei Jahrzehnten im geeinten Deutschland bewerten?
Reiner Haseloff: Der jeweilige Stand der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern weist seit 1990 grundsätzlich Jahr für Jahr einen Aufwärtstrend aus, wenn wir die unmittelbaren Umbruchjahre am Beginn der 1990er-Jahre etwas außen vor lassen. Von den harten Fakten her unterscheiden sich die Zahlen in den fünf neuen Bundesländern nur marginal. Auch Sachsen-Anhalt hat es geschafft, einen Schub nach vorn zu machen, im Rahmen der historisch gegebenen Möglichkeiten und auch vom Instrumentenkatalog her. Wir haben versucht, das Maximum zu erreichen, können allerdings die Jahrzehnte zuvor nicht ungeschehen machen. Dieses Erbe werden wir auch in den kommenden Jahrzehnten noch mit uns herumtragen müssen. Wer glaubt, die unterschiedlichen Wege, die der Westen und der Osten in der Historie Deutschlands gegangen sind, lassen sich völlig ausgleichen, der weiß über Ökonomie und Geschichte nur wenig Bescheid. Die nüchternen Fakten ergeben hier ein klares Bild: Es gibt nach wie vor ein Gefälle hinsichtlich der Löhne, der Unternehmensdichten, der Unternehmensgrößen und der Branchenverteilung.
W+M: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Errungenschaften, die seit 1990 erreicht wurden?
Reiner Haseloff: Wir haben es nach den unmittelbaren Umbruchjahren geschafft, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze Jahr für Jahr gestiegen ist. Dieses Beschäftigungswachstum hat uns in die Nähe der Vollbeschäftigung gebracht. Als ich vor 18 Jahren in die Landesregierung eingetreten bin, war die Arbeitslosenquote vier Mal höher als heute und die Unterbeschäftigungsquote noch deutlich höher. Dass wir heute eine Arbeitslosenquote um die sechs bis sieben Prozent haben und damit fast auf einem Niveau mit Nordrhein-Westfalen liegen, ist ein Zeichen von Wirtschaftskraft und auch von Innovationskraft, die eng verbunden sind mit unseren Leitbranchen Chemie, Automobilzulieferung, Agrar- und Ernährungsgüterwirtschaft. Das zeigt sich auch beim Bruttoinlandsprodukt. Es ist seit 2014 jedes Jahr real gewachsen. Zudem ist auch die Arbeitsproduktivität in Sachsen-Anhalt von 67 Prozent des gesamtdeutschen Wertes im Jahr 2000 auf aktuell 83 Prozent gestiegen.
W+M: Wo gibt es in Ihrem Bundesland konkret die einst von Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“?
Reiner Haseloff: Ich bin vor wenigen Tagen mit dem Zug von München nach Wittenberg gefahren. Und wenn man dann direkt an Leuna vorbeifährt und die imposante Nachtsilhouette betrachtet, kann man sich die Skyline so mancher Großstadt zumindest optisch ersparen. Unlängst war ich im Kohlekraftwerk Schkopau, einem kompletten Neubau nach der Wiedervereinigung. Von dem 130 Meter hohen Turm dort sieht man den „ValuePark“ von Schkopau, ehemals Buna. Heute sind dort Dow Chemical und viele andere Unternehmen zu Hause. Es ist eine Freude zu sehen, wie auf einem von Altlasten befreiten ehemaligen Chemiestandort, der seit über 100 Jahren existiert, durch politische Entscheidungen – maßgeblich von Helmut Kohl – ein hochmoderner Chemiepark entstanden ist. Das bedeutet auch sichere Arbeitsplätze. In der Raffinerie in Leuna konnten über 2.500 neue Arbeitsplätze entstehen, bei Dow fast 1.500. Das war nur möglich durch die Investitionen, die nach 1990 in die Standorte geflossen sind.
W+M: Rechnen Sie noch mit einer Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West?
Reiner Haseloff: Der individuelle Lebensstandard wird sich weiter annähern, zumal Fachkräfte aufgrund der demografischen Entwicklung überall Mangelware geworden sind. Das wird sich positiv auf die Lohnentwicklung auswirken. Die höchsten Lohnsteigerungen der letzten Jahre sind übrigens, vergleicht man die neuen Länder, in Sachsen-Anhalt zu verzeichnen gewesen. Auch, weil sich die stark tariflich geprägten Branchen Chemie, Metallbau oder Maschinenbau in einem deutschlandweiten Wettbewerb befinden. Von den Renten her werden wir das Problem bekommen, dass die Menschen, die nach der Wiedervereinigung arbeitslos wurden und damit unterbrochene Erwerbsbiografien haben, deutlich geringere Altersrenten erhalten werden.
Eine wirkliche Angleichung der Lebensverhältnisse wird es nur dann geben, wenn die Forschungs- und Wirtschaftslandschaft auf gleichem Niveau angekommen ist. Das ist zum Teil eine politische Entscheidung, da es hier um die Steuerung von Ressourcen geht. Hier müssen noch etliche Lücken geschlossen werden. Aber ich nenne auch noch einen anderen Bereich – den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Von den rund 44 Gemeinschaftseinrichtungen sind gerade mal – je nach Zählweise – ein bis zwei Einrichtungen in Ostdeutschland angesiedelt. Die vielen Milliarden Euro, die von diesen Einrichtungen umgesetzt werden, von der Auftragsvergabe bis zu den unternehmensnahen Dienstleistungen kommen also nur zu einem Bruchteil in den neuen Ländern an. Die damit verbundenen wirtschaftlichen Impulse gehen an Ostdeutschland vorbei. Hier fordern wir politische Entscheidungen, die zu einer gerechteren Verteilung führen. Wenn es die nicht gibt, wird die alte DDR-Grenze auch in 50 Jahren noch erkennbar sein.
W+M: Wo liegen Ihrer Einschätzung nach aktuell die größten Defizite beim Zusammenwachsen von Ost und West?
Reiner Haseloff: Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ist ein System, das sehr optimiert arbeitet und durch die Sozialpartnerschaft historisch so aufgestellt ist, dass die Konfliktbewältigung im Sinne einer Konsensgesellschaft bislang erfolgreicher war als jedes andere Gesellschaftsmodell. Es ist aber zudem eine Wettbewerbsgesellschaft, die es mit sich bringt, dass es einen harten und individuellen Wettbewerb um Posten und Positionen gibt. Diese Mechanismen machen bestimmte Eigenschaften erforderlich, über die große Teile der jetzt im Erwerbsleben stehenden mittleren und älteren Bevölkerungsgruppen aus den neuen Ländern einfach nicht verfügen. Von Ausnahmen abgesehen. Das sieht man am deutlichsten bei der Verteilung von Führungspositionen. Da ist der Osten signifikant unterrepräsentiert. Das wächst sich erst über Jahrzehnte aus, da wird es noch zwei bis drei Generationen brauchen, bis die Unterschiede kleiner werden. Das ist leider so, wenn unterschiedliche Systeme zusammenkommen. Das ist keine moralische Bewertung, die ich hier vornehme, sondern eine Systembeschreibung. Wir sind vor 30 Jahren – aus einem bankrotten System kommend – einem Erfolgssystem beigetreten. Und befinden uns bis heute in einem Anpassungsprozess.
W+M: Fürchten Sie angesichts der Wahlerfolge der AfD – speziell in den neuen Ländern – um den Fortbestand von Demokratie und soziale Marktwirtschaft in Deutschland?
Reiner Haseloff: Ich glaube, dass nach wie vor die große Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung weder zurück will in das alte System, geschweige denn in eine Diktatur, die sie zum Großteil noch erlebt hat, noch, dass sie die Demokratie dem Grunde nach infrage stellt. Wir müssen uns vielmehr eine weitere Frage stellen: Welchen Eindruck macht aktuell im Tagesgeschäft die Demokratie? Im Umgang miteinander, in Sachen Problemlösungsfähigkeit oder auch hinsichtlich der handelnden Personen, die die Demokratie repräsentieren. Und da ist die Enttäuschung in Ostdeutschland deutlich größer als in West- und Süddeutschland. Möglicherweise deshalb, weil man in letzteren Gebieten einiges gewöhnt ist und wir im Osten vielleicht mit zu idealen Vorstellungen gekommen sind. Vielleicht haben wir nicht erwartet, dass in diesem für uns neuen System ganz reale Menschen mit allen Stärken und Schwächen unterwegs sind. Und dass es an jedem selbst liegt, wie Demokratie von unten nach oben entwickelt wird. Die Unzufriedenheit mit der Darstellung der Demokratie und den handelnden Persönlichkeiten kann nur dann abgebaut werden, wenn Politik Lösungsansätze dafür anbietet.
Grundsätzlich glaube ich nicht, dass die Demokratie gefährdet ist. Die große Mehrheit der Bevölkerung wird auch weiterhin verantwortlich wählen.
W+M: Welche Möglichkeiten sehen Sie, die vielen Protestwähler, die derzeit für die AfD votieren, zurückzugewinnen?
Reiner Haseloff: Den Protestwähler gibt es sicherlich nicht, das sieht man auch an der Soziostruktur der Wähler. Da sind viele Vertreter der Mittelschicht dabei, die unzufrieden sind mit bestimmten gesellschaftlichen Zielstellungen. Etwa bei der Frage, welchen Weg geht Deutschland im Kontext der europäischen Union oder welche Rolle spielt die Nation als Ordnungsfaktor und was Sicherheitsthemen anbelangt. Wenn wir die Probleme, die die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft an die Ränder gebracht haben, lösen, holen wir sie auch wieder zurück. Die wenigsten sind ideologisch verhärtete Extremisten. Politik muss jedoch Handlungsfähigkeit zeigen.
W+M: Ein Großteil der Bürger Ihres Landes hat durch den auf die deutsche Wiedervereinigung folgenden wirtschaftlichen Strukturwandel (zwangsläufig) Transformationserfahrungen gesammelt. Was glauben Sie, sind die Ostdeutschen aufgrund dieser Transformationserfahrungen besser für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet als die Bürger als den Altbundesländern?
Reiner Haseloff: Es gibt einige grundlegende Erfahrungen, die wir gesammelt haben und die sicherlich bleiben: Man kann mit sehr viel weniger leben, als wir das heute tun. Eine Wettbewerbsgesellschaft bedeutet, dass man ausgelesen wird, wenn man sich nicht weiterentwickelt und gegenhalten kann. Unternehmen können bankrottgehen und schließen, aber man fällt deshalb in Deutschland dennoch nicht durchs soziale Netz. Es kommt allerdings noch etwas dazu, das mit der Untergangserfahrung und dem Systembruch zusammenhängt: Es gibt ein Frühwarnsystem und eine Sensibilisierung dafür, zu reagieren, wenn globale und existenzbedrohende Probleme entstehen. Etwa bei der Migrationsfrage. Wo die Befürchtung bei vielen Menschen entstanden ist, dass man all das, was man sich in den zurückliegenden drei Jahrzehnten mühsam aufgebaut hat, plötzlich wieder infrage gestellt wird. Die Menschen hier wünschen sich keine neuen gesellschaftlichen Experimente. Die Herausforderungen, die entstehen, sollen nicht unkontrolliert und nicht ohne ständige Steuerungsmöglichkeit des Staates zugelassen werden. Die Politik ist gefordert, die Probleme, die sich aus dieser Stimmung ergeben, zu lösen.
W+M: Bei einem Blick in die regionalen Medien erfährt man, dass es in Ihrer „Kenia“-Koalition immer wieder knirscht. Es gab Streit um das „Grüne Band“, um Zuschüsse für die Uniklinik Magdeburg, um das Straßenausbaubeitragsgesetz und zuletzt stand die Koalition wegen eines mutmaßlichen Neonazis in den Reihen der CDU auf der Kippe. Ist „Kenia“ aus Ihrer Sicht ein Regierungsmodell, das Sie anderen Bundesländern empfehlen würden?
Reiner Haseloff: Es kommt immer auf die konkrete Situation an. Ich würde Armin Laschet sicherlich nicht diese Empfehlung geben, wenn es in Nordrhein-Westfalen auch zu einer schwarz-gelben Koalition reicht. Aber es ist das, was unter ostdeutschen Verhältnissen derzeit eine in der Mitte stehende Koalition darstellt. Links und rechts davon haben wir zwei Parteien, die jeweils die Systemfrage stellen. „Kenia“ ist daher in einer sich ausdifferenzierenden Parteienlandschaft und in Zeiten nachlassender Wählerbindung eine durchaus stabile Regierungsform, die in einem verabredeten Zeitrahmen gemeinsame Projekte realisiert, auch wenn die beteiligten Parteien sehr unterschiedliche Parteiprogramme haben.
W+M: Könnten Sie sich eine Fortsetzung des Regierungsbündnisses mit SPD und Grünen für die Zeit nach der nächsten Landtagswahl am 6. Juni 2021 vorstellen?
Reiner Haseloff: Das Paket an zu lösenden Aufgaben ist noch so groß, dass man ausreichend Projekte für die Fortsetzung dieser Koalition findet.
W+M: Sie sind seit 2011 Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt. Im Juni dieses Jahres will Ihre Partei entscheiden, wer Spitzenkandidat für die Landtagswahl werden soll. Werden Sie um eine dritte Amtszeit als Regierungschef kämpfen oder lassen Sie Ihrem Innenminister und CDU-Landesvorsitzenden Holger Stahlknecht – wie mitunter spekuliert wird – den Vortritt?
Reiner Haseloff: Wir haben die klare Vereinbarung, dass wir rund ein Jahr vor der Landtagswahl entschieden haben wollen. Dieser Meinungsbildungsprozess sollte in Ruhe laufen. Ich bin im nächsten Jahr 67 Jahre alt. Das eröffnet rein theoretisch beide Möglichkeiten, wenn man bedenkt, dass mein Amtsvorgänger Wolfgang Böhmer erst mit 66 Jahren das Ministerpräsidentenamt übernahm. Aber wir sind gut beraten, uns an die vereinbarte Zeitschiene zu halten und auch zu schauen, welche Entwicklungen sich bis dahin insgesamt in der Bundesrepublik vollziehen. Denn ein Bundesland kann immer nur so unterwegs sein, wie es der Kontext zur handelnden Bundesebene zulässt, wie wir gerade erst bei Thüringen gesehen haben. Mein Ziel ist es, dass wir bei uns nie in eine Situation kommen, die mit Thüringen vergleichbar wäre.
W+M: Wer sollte aus Ihrer Sicht neuer Vorsitzender der Bundes-CDU werden? Sie wurden jüngst bei einer Veranstaltung im engen Austausch mit Friedrich Merz gesehen. Ist das Ihr Favorit?
Reiner Haseloff: Über den Parteivorsitz muss und wird der Bundesparteitag entscheiden. Zu Friedrich Merz kann ich nur sagen: Ich arbeite seit zehn Jahren mit ihm eng zusammen. Seit zehn Jahren unterstützt er mich. Und seit zehn Jahren ist er regelmäßig in Sachsen-Anhalt und in ganz Ostdeutschland unterwegs. Friedrich Merz kennt den Osten sehr, sehr gut.
Interview: Karsten Hintzmann und Frank Nehring