„Deutschland ist mittlerweile länger vereint, als Mauer und Stacheldraht es getrennt haben“, sagt der Generalsekretär des Wirtschaftsrates der CDU e.V. Wolfgang Steiger. „Seit der Wiedervereinigung haben die neuen Bundesländer einen Aufholprozess mit großem Willen und Mut betrieben. Vor allem die Menschen in Ostdeutschland haben dabei gezeigt, dass sie flexibel sind und bereit sind neue Wege zu gehen.“ Grund genug und angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen wurde ein Positionspapier „Agenda für Ostdeutschland“ erarbeitet, das wir Ihnen im Folgenden vorstellen.
Ausgangslage
Die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands im wiedervereinigten Deutschland war und ist von enormen Belastungen der Vergangenheit geprägt. So wirken die Folgen einer planwirtschaftlich gelenkten und im Wesentlichen auf Kombinatsstrukturen ausgerichteten Volkswirtschaft erheblich nach. Der Osten konnte mit der Wiedervereinigung 1990 eben nicht auf alteingesessene, eigenkapitalstarke Familienunternehmen und Konzerngesellschaften zurückgreifen, die mit ihrer Power und ihren globalen Netzwerken Motor der jeweils regionalen Entwicklung sein konnten.
Ein ähnlich schweres Erbe haben die ostdeutschen Städte zu schultern. Sie mussten – unabhängig ob Groß-, Mittel- oder Kleinstadt – im Gegensatz zu den westdeutschen Kommunen in einer Zeitspanne von nur 40 Jahren gleich zwei sehr einschneidende strukturelle Umbrüche verkraften. Dies waren die auch ökonomischen Folgen der Demontagen durch die Sowjetadministration nach 1945 sowie die bis in die 1970er Jahre andauernden Verstaatlichungen mit dem vollständigen, auch soziokulturellen Exodus des unternehmerischen Mittelstands. Nur wenige Dekaden später folgte mit dem Niedergang der großen volkseigenen Betriebe nach 1989 abermals eine Zäsur. Viele westdeutsche Städte indes konnten sich zunächst Dank des Marshall-Plans und des später einsetzenden Wirtschaftswunders wieder bzw. erst zu wahren Kraftzentren entwickeln, kontinuierlich und ohne Brüche. Sie haben einen jahrzehntelangen Vorsprung vor ostdeutschen Großstädten wie Rostock, Halle, Chemnitz oder Magdeburg.
Mit der Wiedervereinigung beider Landesteile sind in den Aufbau Ost enorme Haushaltsmittel geflossen.
Die Zahlen schwanken je nach Ansatz. Die Universität Halle-Wittenberg beziffert die Leistungen bis zum Jahr 2014 auf 1,6 Billionen EUR. Berechnungen der FU Berlin sprechen für den gleichen Zeitraum von 2 Billionen EUR. Fest steht: In der Rückschau wurden im Schnitt etwa 30 Prozent investiv eingesetzt, der Großteil der Mittel fand in der Angleichung der Sozialsysteme und zur Finanzierung der Landes- und Kommunalhaushalte Verwendung. Den Aufbau Ost allerdings allein unter Kostenperspektiven zu betrachten, wäre zu kurz gegriffen. Denn im Gegenzug flossen auch Einnahmen in Form von Steuern und Abgaben in den Staatshaushalt zurück: zum einen durch die Ostdeutschen selbst, vor allem aber basierend auf millionenfacher ostdeutscher Nachfrage nach westdeutschen Produkten. Der Aufbau Ost war in Teilen so auch ein Konjunkturprogramm West.
Erfolge, Stärken, Unterschiede
Mittlerweile gleichen sich die Lebensverhältnisse zwischen Ost und West langsam, aber kontinuierlich an. Lag die Arbeitslosenquote Ost im Jahr 1999 noch bei 17,3 Prozent, beträgt sie im 29. Jahr der deutschen Einheit 6,6 Prozent (zum Vergleich: Arbeitslosenquote West 1999 = 8,6 Prozent, 2019 = 4,7 Prozent). Auch das durchschnittliche Lohnniveau ist kontinuierlich gestiegen und liegt aktuell bei 87 Prozent des Westniveaus. Die Tariflöhne entsprechen sogar 98 Prozent des Westniveaus, allerdings bei niedrig ausgeprägter Tarifbindung. Darüber hinaus darf die Binnenwanderung zwischen Ost und West mittlerweile als ausgeglichen betrachtet werden.
Im heutigen Standortwettbewerb punktet der Osten
Deutschlands mit moderaten Grundstückspreisen für Unternehmensansiedlungen, mit oftmals bezahlbarem Wohnraum, vielfach behutsam und eindrucksvoll sanierten Städten, gut ausgebauter Kinderbetreuung und einem deutlich höheren Anteil von Frauen in Führungspositionen als im Westen.
Gleichwohl sind die Schwächen des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland nach wie vor ausgeprägt:
Auch 29 Jahre nach der Wiedervereinigung liegt die ostdeutsche Wirtschaftskraft – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – mit rd. 75 Prozent noch unter der des westlichen Landesteils. Ein Grund dafür ist in der Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft zu finden. So gibt es kein einziges deutsches DAX-30 Unternehmen mit Sitz in Ostdeutschland. Demzufolge sind wertschöpfungsintensive unternehmensnahe Dienstleistungen unzureichend vorhanden, und industrielle Forschung und Entwicklung werden kaum betrieben. Innovationstreiber im Osten der Republik bleiben überwiegend die öffentlichen Hochschulen.
Die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft erfolgt keineswegs flächendeckend. Die erfolgreichen Industriestandorte konzentrieren sich auf bestimmte Regionen, führend sind Teile Mitteldeutschlands und der Großraum Berlin. Damit gibt es zugleich nicht ausreichend viele Metropolen, die wiederum als Ballungsräume und damit Kraftzentren fehlen.
Ist das Verkehrsnetz im Osten der Republik mittlerweile gut ausgebaut, bestehen bei der Infrastruktur der Zukunft, einer leistungsfähigen Breitbandversorgung, noch erhebliche Lücken. Die Versorgungsquote liegt in vielen ostdeutschen Regionen teilweise unter 50 Prozent.
Die in Ostdeutschland insgesamt zu verzeichnende geringere Wirtschaftskraft und die in den vielen strukturschwachen Regionen zu Tage tretende Alterung der Bevölkerung bedingen niedrige Steuereinnahmen. In der Folge fällt die Bereitstellung der öffentlichen Infrastrukturen (Verkehr, Bildung, Verwaltung) im Osten ungleich schwerer als im Westen.
Empfehlungen
Der Wirtschaftsrat fordert eine Wirtschafts- und Strukturpolitik, die darauf verzichtet, Symptome mit staatlichen Mitteln zu überdecken. Notwendig ist eine Wirtschaftspolitik, die gezielt ein sich selbst tragendes Wachstum anregt und damit Perspektiven schafft. Eine solche Politik besteht aus unterschiedlichen Ansätzen:
Flächendeckende Breitbandversorgung schaffen: Eine leistungsfähige und flächendeckende Breitbandversorgung ist im Zeitalter der Digitalisierung die Voraussetzung für neue Geschäftsideen, wirtschaftliche Entwicklung und Prosperität in den Regionen. Es braucht einen Masterplan, der garantiert, dass gerade auch der ostdeutsche ländliche Raum über eine digitale Infrastruktur verfügt, die den Qualitätsanforderungen an Zuverlässigkeit, Schnelligkeit, Sicherheit genügt. Dazu zählt eine auskömmliche Finanzierung genauso wie ein systematisches Vorgehen nach Vorbild der Bundesverkehrswegeplanung.
Ansiedlungspolitik und Wirtschaftsförderung neu denken: Förderprogramme müssen gezielter eingesetzt werden. Statt der bislang flächendeckenden Förderung sollten nun regionale Wertschöpfungsketten vervollständigt und vor allem clusteraffine Unternehmen in ihrer Ansiedlung unterstützt werden. Mittelpunkt der künftigen Strukturförderung sollte die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ sein, diese muss für eine breitere Anwendung geöffnet werden. Neben den bekannten Instrumentarien müssen Produktivitätssteigerung, Digitalisierung, aber auch FuE-Aktivitäten in den Vordergrund rücken.
Hochschulen und Wirtschaft vernetzen, Gründerkultur stärken: Ostdeutschland ist mittlerweile breit aufgestellt an akademischer Forschung an den Hochschulen, Instituten und wirtschaftsnahen Forschungseinrichtungen. Dieser Fundus ist intensiver zu nutzen und einzubinden. Insbesondere die Einbindung wirtschaftsnaher Forschungseinrichtungen ist zu stärken, da diese unmittelbar am Bedarf der Wirtschaft orientiert arbeiten. Eine intensivere Vernetzung würde zugleich die Gründung von Unternehmen und damit die Start-up-Kultur in Ostdeutschland fördern.
Wirtschaftliche Kraftzentren mit dem Umland verbinden: Auch in vielen ostdeutschen Großstädten wie Leipzig, Dresden oder Jena steigen die Lebenshaltungskosten. Gelingt es, das nähere oder – je nach Strahlkraft – weitere Umland durch schnelle, gut getaktete Bahnverbindungen anzubinden, kann diese Chance für viele aussterbende Städte in der Peripherie sein. Das Einzugsgebiet des boomenden Berlin etwa könnte so leicht auf einen Radius von bis zu 120 km und damit bis in die Prignitz, die Lausitz oder ins strukturschwache Jerichower Land erweitert werden. Dazu indes wäre der Wille der Verkehrsverbünde zur echten Zusammenarbeit erforderlich.
Silodenken überwinden: Die Start-up-Metropole Berlin ist in einem nur 200 km großen Umkreis umgeben von Hochschul- und Industriestandorten wie Magdeburg, Halle, Leipzig, Dresden. Durch eine gemeinsame Raumplanung wie Strukturpolitik könnte ein vernetzter, hoch attraktiver Wirtschaftsraum entstehen – mit Sogwirkung auch darüber hinaus. Das aber erfordert eine Überwindung des Silodenkens seitens der jeweiligen Landesregierungen. Was der Ballungsraum München in den 1970er und 1980er Jahren für die strukturschwachen Teile Bayerns bewirkte, könnte ein solcher Raum auch für große Teile Ostdeutschlands leisten: Er kann Magnet und Wachstumstreiber sein und könnte diesen Teil Deutschlands wieder – wie schon vor 1945 – zu einem der Technologiezentren des Landes avancieren lassen.
Modellregionen für Bürokratieabbau etablieren: Mehr Spielräume machen sowohl Verwaltung als auch Unternehmen flexibler und schneller, und sie schaffen Freiräume für bürgerschaftliches Engagement, das etwa Mobilitäts- oder Nahversorgungsangebote im ländlichen Raum ergänzen hilft. Generell sollte es die Möglichkeit geben, in Deutschland Modellregionen für Bürokratieabbau zu schaffen, in denen drei Jahre lang getestet und evaluiert werden kann, was dann bei guten Erfahrungen im gesamten Bundesland bzw. ganz Deutschland ausgerollt werden könnte. Denn Deutschland muss insgesamt schneller und flexibler werden.
Den Weg der gezielten Behördenansiedlungen weitergehen: Auch Behördenstandorte sind Wirtschaftsfaktoren vor Ort. Vor diesem Hintergrund sollte die Bundesregierung den eingeschlagenen Weg konsequent weitergehen und das bislang noch unterrepräsentierte Ostdeutschland als Behördenstandort weiter stärken. Überdies sollten die Bemühungen hinsichtlich einer gleichmäßigeren Verteilung von EU-Institutionen deutlich intensiviert werden.
Verwaltungsstrukturen modernisieren: Immer neue Gebietsreformen entfremden die Menschen von lokalpolitischen Entscheidungen und damit von demokratischen Prozessen. Zahlreiche Studien, u. a. des ifo Instituts, zeigen, dass die erhoffte Wirkung auf Kosten und Ausgaben oftmals sogar ausbleibt. Sind Landkreise oder kreisfreie Städte strukturell nicht in der Lage, Aufgaben effizient und in bester Qualität zu erbringen, sollten diese zum Beispiel an die Landesverwaltungsämter als zentrale leistungsfähige Mittelbehörde abgegeben werden.
Private Partner zur Sanierung der kommunalen Infrastruktur nutzen: In vielen ostdeutschen Kommunen besteht nach wie erheblicher Investitionsbedarf, wenn es darum geht, kommunale Gebäude zu sanieren oder die kommunale Verkehrsinfrastruktur zu ertüchtigen. Die Finanzierung dieser notwendigen Investitionen allein aus öffentlichen Haushalten ist für viele ostdeutsche Kommunen in strukturschwachen Regionen kaum möglich. Geeignete Projekte in öffentlich-privater Partnerschaft mit klaren Leistungsvereinbarungen und Sanktionsmechanismen können hier Motor zur Verbesserung der Lebensbedingungen sein.
Eine intensive Befassung mit den Problemen und Themen des Ostens hat gesamtstaatliche Relevanz – insbesondere für die Demokratie in Deutschland. Gleichzeitig müssen auch Regionen in westdeutschen Bundesländern, die aktuell ähnlich gravierende Strukturprobleme wie der Osten haben, wie etwa das Ruhrgebiet und das Saarland, in den Fokus genommen werden. Entscheidend ist angesichts der sich eintrübenden Konjunktur, dass die Bundesregierung wieder eine Politik macht, die Deutschlands weltweite Wettbewerbsfähigkeit voranbringt. Das bedeutet, eine Steuer- und Abgabenpolitik zu machen, die Investitionen und Unternehmensgründungen in Deutschland befördert, ein Ökosystem für Start-ups zu etablieren, zu dem auch ein echter Wagniskapitalmarkt gehört, eine sichere und bezahlbare Energieversorgung ebenso anzustreben wie einen flexibleren Arbeitsmarkt, und auf eine Bildungspolitik von hoher Qualität zu setzen, die schon in der Schule Fächer wie Wirtschaft und MINT-Fächer stärker einschließt. Die Digitalisierung und die Globalisierung können Deutschland dabei von großem Nutzen sein, wenn jetzt die richtigen Weichen gestellt werden.