Donnerstag, April 25, 2024

Darum braucht Ostdeutschland Europa

In diesem Jahr können wir 30 Jahre Mauerfall feiern – jenes einschneidende Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte, das kurze Zeit später zum Beitritt der wieder entstandenen ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik Deutschland führte. Was aber vielfach vergessen wird: Mit der deutschen Vereinigung wurde die ehemalige DDR nicht nur Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland, sondern zugleich auch Teil der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beziehungsweise der wenig später gegründeten Europäischen Union – mit allen Rechten, aber auch Pflichten, die mit einer EU-Mitgliedschaft verbunden sind.
Von Prof. Dr. Joachim Ragnitz

So erlangten fortan auch für die ostdeutschen Länder die teils recht detaillierten europarechtlichen Vorschriften Gültigkeit, die für viele landes- und bundespolitische Gesetzesvorhaben bindend sind. Der hieraus resultierenden Einschränkung der regionalen und nationalen Souveränität stehen jedoch die immensen Vorteile gegenüber, die Ostdeutschland durch die damit ermöglichte Integration in den einheitlichen europäischen Binnenmarkt erfuhr: Durch die Verwirklichung der vier „Grundfreiheiten“ (Freier Warenverkehr, Freizügigkeit des Personenverkehrs, Dienstleistungsfreiheit und freier Kapital- und Zahlungsverkehr) wurden gravierende Hemmnisse für grenzüberschreitende Aktivitäten auf den genannten Gebieten beseitigt.

Mit fortschreitender Vergemeinschaftung weiterer Politikbereiche, der Abschaffung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum (1995) und schließlich der Einführung des Euro als gemeinschaftlicher Währung in den meisten EU-Mitgliedsstaaten (ab 1999) verschwanden schließlich auch die letzten noch verbliebenen administrativen Handelshemmnisse. Dies kam und kommt allen zugute: Die Verbraucher profitieren dadurch von einer größeren Angebotsvielfalt zu niedrigeren Preisen, die Unternehmen von einer Vergrößerung der für sie relevanten Absatzmärkte und von einer Zuwanderung ausländischer Fachkräfte, die Arbeitnehmer schließlich dadurch, dass arbeitsplatzschaffende Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen hierdurch erleichtert wurden. Nicht zu vergessen sind schließlich die erheblichen finanziellen Leistungen, die aus den EU-Kassen nach Ostdeutschland flossen: Hilfen für private und öffentliche Investitionen aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und dem Europäischen Landwirtschaftsfonds zählen hierzu genauso wie die zahlreichen eher sozialpolitisch motivierten Förderprogramme aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF). Auch wenn man die Ausgestaltung dieser Maßnahmen im Detail kritisieren kann: Unstrittig ist, dass damit der grundlegende Umbauprozess der ostdeutschen Wirtschaft von der Plan- zur Marktwirtschaft enorm erleichtert wurde, und unstrittig ist auch, dass die genannten Programme auch heute noch dazu beitragen, die ausstehende „Angleichung der Lebensverhältnisse“ voranzubringen.

In jüngerer Zeit wird die Mitgliedschaft in der Europäischen Union in der öffentlichen und politischen Diskussion in einigen europäischen Ländern allerdings oftmals eher kritisch gesehen – augenfälligstes Beispiel hierfür ist der Austritt Großbritanniens aus der EU. Ein typisches Luxusproblem: Wenn man sich an die (großen) Vorteile gewöhnt hat, erscheinen die (wenigen) Nachteile umso gravierender. Zwar zweifelt kaum ein externer Beobachter daran, dass Großbritannien durch den EU-Austritt zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht mehr Nachteile als Vorteile hat. Treten die BREXIT-bedingten Schäden erst einmal offen zu Tage, werden diese hoffentlich abschreckend auf die Euro-Skeptiker in anderen Ländern wirken. Rest-Europa dürfte durch den BREXIT hingegen weit weniger stark in Mitleidenschaft gezogen werden – und zu hoffen ist, dass die betroffenen Unternehmen die Zeit seit dem britischen EU-Referendum dazu genutzt haben, Notfallpläne auch für den Fall eines ungeordneten EU-Austritts zu erarbeiten.

Demgegenüber ist die internationale Strahlkraft einer EU-Mitgliedschaft weiterhin ungebrochen. Dies zeigt sich daran, dass die mittel- und osteuropäischen Länder, die nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems in diesen Ländern nicht in den Genuss eines sofortigen Beitritts zur EU kamen, große Anstrengungen darauf verwandten, baldmöglichst die EU-Mitgliedschaft zu erlangen. In mittlerweile drei Erweiterungsrunden (2004, 2007 und 2013) sind insgesamt elf mittel- und osteuropäische Länder der EU beigetreten. Sechs weitere ehemalige Ostblockstaaten gelten als Beitrittskandidaten. Nicht zu verkennen ist allerdings, dass eine nochmalige Vergrößerung der EU erhebliche Schwierigkeiten aufwerfen kann, so mit Blick auf die Entscheidungsprozesse in den EU-Gremien und die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Mitgliedsländern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand. Dies spricht dafür, in den nächsten Jahren eher die Vertiefung als die Erweiterung der Europäischen Union voranzutreiben.

Hierüber lohnt es sich nachzudenken: Welche Politikbereiche könnten und sollten vergemeinschaftet werden, ohne dass dies zu einem Verlust an nationaler und regionaler Identität führt? Welche Länder könnten möglicherweise bei einer vertieften Integration vorangehen, welche erst in einer zweiten Runde folgen, und wie sind die Beziehungen zwischen beiden Gruppen zu gestalten? Wie können Probleme wie Zuwanderung, Klimawandel und Arbeitskräftemangel europäisch gelöst werden? Hierauf müssen alsbald Antworten gefunden werden – aber das funktioniert nur dann zufriedenstellend, wenn die Europäischen Institutionen auch eine ausreichend demokratische Legitimität aufweisen.

Aus diesem Grunde sind die anstehenden Europawahlen wichtig – auch für uns Ostdeutsche. Gerade weil die ostdeutschen Länder in der Vergangenheit so stark von den EU-Politiken profitiert haben, wäre es ein verheerendes Zeichen, wenn ein Erstarken europakritischer Parteien oder auch nur eine geringe Wahlbeteiligung ein Desinteresse an europäischer Politik anzeigen würden. Denn letzten Endes sind Entscheidungen auf europäischer Ebene für die weitere (wirtschaftliche) Entwicklung bei uns bedeutsamer als Entscheidungen der Landespolitik, die nur auf wenigen Feldern überhaupt nur echte Kompetenzen besitzt.

Prof. Dr. Joachim Ragnitz ist Managing Director des ifo-Instituts Dresden.
Foto: W+M/Succo

Dieser Beitrag erscheint auch in der Printausgabe von WIRTSCHAFT+MARKT, Frühjahr 2019.

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